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Zeit für Wahrheit

27.01.2023 22:14

Ursprünglich verfasst für LinkedIn:

#fünfzigplus #neuanfang #realität #inklusion #illusion

Ich bin 50+. Vor über einem Jahr habe ich meinen sicheren Staatsjob verlassen. Nicht weil ich den Beruf als solchen nicht gemocht hätte, im Gegenteil. Aber er hatte mich nur noch krank gemacht, trotzdem oder genau deswegen. Aber egal, ein krankes System macht irgendwann krank.

Alle Welt, auch hier, ermutigt dich, dich neu starten zu trauen, wenn es dir im Beruf schlecht geht. Ich habe es beherzigt, war mutig, bin gesprungen, bevor ich richtig krank sein würde. Dann stellte ich fest, bei all den weiteren schönen Worten, etwa zur „Inklusion“ sieht die Realität anders aus. Wenn ich mich im Kontext von Inklusion sehe: Ja, ich fühle mich angesprochen. Offenbar bin ich 2. Klasse wegen meines „Alters“, nur dass de facto keine Inklusion stattfindet, außer im Schein der Theorie und auf dem Papier. Da geht alles, und es klingt so schön offen und modern. Steht man gut da.

Ich habe mich beruflich neu orientiert, viel auf mich genommen, um das zu schaffen. Ich war eine der Besten in meinem Uni-Lehrgang, und das war viel Arbeit, gepaart mit viel Interesse und dem Glauben, dass es richtig ist und zu etwas führt. Ja, tut es. Wenn du 35 bist, nicht aber 53.

Alle wollen Berufserfahrung von dir sehen, nur gibt dir keiner die Möglichkeit, welche zu erwerben. Und wenn, dann mit 35, nicht aber mit 53. Fast 50 Bewerbungen in nur einem halben Jahr seit Beendigung meiner Neuausbildung und ebenso viele Absagen. Es macht etwas mit dir, wenn man dich nie will, wenn du nie genügst, was du auch versuchst. Wenn du keine Chance mehr kriegst.

Aber das wollen jene, die dich ermutigen, zu dir zu stehen, deine Gesundheit zu retten und neue Wege einzuschlagen, nicht sehen und nicht wahrhaben. Denn auch das klingt so schön. Deswegen wird es propagiert.

Ich stimme dem noch immer zu, allerdings spielt die Realität da leider nach wie vor nicht mit. Und darauf soll einmal der tollen Ermutigungen zum Trotz in aller Deutlichkeit hingewiesen werden. Tut keiner, denn es ist natürlich nicht so populär wie das, liest sich weniger angenehm als all die wunderbaren Träumereien dessen, wie man die Welt gerne hätte.

Ich bin mir jeden Tag dankbar, mich vor den Auswirkungen eines Verbleibs im alten Job gerettet zu haben. Aber: Ich lebe demnächst von Sozialhilfe. Eine Bekannte von mir ist 58, ebenfalls Akademikerin und arbeitete lange in der Pharma. Sie hat nie mehr etwas gefunden und geht inzwischen putzen. So ist die Realität in Österreich.

Fakt ist auch, dass es in meiner Wohnung jetzt 20 Grad hat und ich sie mir, hätte ich vor einigen Jahren nicht die Eingebung gehabt, sie zu kaufen, nicht mehr leisten könnte. Und es ist keine große Wohnung. Miete zu zahlen, wäre allerdings nicht mehr drin. Ich hatte 2 SOS-Kinderdorf-Patenschaften. Eine davon habe ich jetzt aufgekündigt. Beide aufzugeben, das habe ich nicht über mich gebracht. Ich will nicht auf dem Buckel der Ärmsten der Armen sparen. Da verzichte ich lieber selbst auf ein bisschen mehr.

Ich habe im alten Job zuletzt über 5.000 Euro brutto im Monat verdient. Ich habe sehr vieles veräußern müssen, um mich finanziell feizuschaufeln. Aber wenn man keinen Job mehr findet, ist das größte Problem die Isolation. Ich lebe alleine und gehöre nirgendwo mehr dazu. Das ist das Schwerste daran – neben der Tatsache, dass man anscheinend nicht mehr gebraucht wird und die eigenen Talente und Fähigkeiten nichts mehr wert sind, weil auch sie anscheinend nicht gebraucht werden. Das ist hart und das tut weh.

Was ich sonst noch hinter mir habe in meinem Leben, geht noch viel tiefer und verlangte mir noch mehr ab in der Summe. Ich werde es hier nicht breittreten, denn es gehört nicht hierher. Ich hatte sehr viel zu bewältigen, das von Kindesbeinen an. Was ich damit aber sagen will, ist: Es ist sehr einfach zu urteilen und zu schubladisieren von weitem ohne Einblick in das Leben der Menschen. Die Wahrheit dahinter sieht oft anders aus.

Ich wollte das hier einmal posten, denn es gibt einen zu großen Überhang an Erfolgsvermeldungen. Die, denen es anders geht, halten viel zu oft den Mund. Weil sie sich schämen. Man soll sich aber nie für sich schämen, wenn es nichts zu schämen gibt, nur weil man in einer Gesellschaft lebt, die nur Ersteres zulässt, hören will, in den Fokus stellt und nur dafür applaudiert. Nicht für die, die das Gegenteil erleben und aushalten, ohne unterzugehen. Die weitermachen, weiter alles versuchen, aber ausgeblendet werden.

Ich möchte uns einmal eine Stimme geben! Denn wir sind auch Menschen. Nein, mehr: Wir sind auch Heldinnen und Helden! Wir stehen so oft still alleine da, ohne Applaus. Die Aufmerksamkeit bekommen die anderen. Die, die glauben, dass sie immer zu den Erfolgreichen gehören würden, denen man applaudiert. Die, die wir selber einmal waren. Die, die dasselbe geglaubt haben und sich nie etwas anderes für sich auch nur hätten vorstellen können.

Die, über die man teils Begriffe liest, dass einem schlecht dabei wird! Von „Schmarotzer“ über „soziale Hängematte“ bis hin zu „Ruß“! Ja, dann bin ich jetzt Ruß. Eine tolle Art, über andere Menschen und deren Schicksale, von denen man meistens nichts weiß, zu urteilen und zu sprechen.

Mein „Open for work“ hier habe ich deaktiviert. Es ist mir nach all der Zeit, die es unverändert dastand, schon peinlich geworden und hat mir auch nie etwas gebracht.

Ich bin ein lösungsorientierter Mensch. Ich suche so lange nach einem Weg, bis ich einen finde. Vom  Plan B bis zum Plan Z und von mir aus noch fünfmal das ganze Alphabet von vorne. Und wenn ich 100 bin, bis ich einen Weg gefunden habe! Aber das interessiert keinen. Was interessiert, ist die herkömmliche Art von Erfolg. Die, die alle sehen, von weitem. Sonst nichts.

Auch recht. Aber ich mach jetzt den Mund auf! Es gibt noch andere Arten von Leistung, Kraft und Erfolg, und nicht nur diese! Sie ist nur ein Beispiel.

Einen Text wie diesen klopfe ich in Echtzeit der Gedanken in den Computer. Aber ich habe ja keine Talente (neben diesem noch genug andere), die unsere 2023er-Gesellschaft brauchen könnte... wie die vieler anderer. Klar, ich bin 50+. Das zählt mehr. Interessieren tut es auch keinen, weil ich nicht zu denen gehöre, die einen banalen Satz posten, wo ich mich oftmals wundere, was daran so besonders sein soll, und Tausende liken aus Prinzip, weil es alle tun. Wo Tauben sind, fliegen eben Tauben zu, der Inhalt ist da schon zweitrangig. Amen.

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27/01/203 – Made4Gravity© by Astrid Schernhammer


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